Ein neunjähriges Mädchen zeigt Verhaltensprobleme in Schule und Beziehungen. Nach Durchführung von psychologischen Test wird bei ihr Hochsensibilität festgestellt. Die daraufhin gezogene Schlussfolgerung lautet, dass ihre Probleme auf die Hochsensibilität zurückzuführen sind. Doch ist das wirklich die ganze Geschichte? 

Das Verstehen von Hochsensibilität

Hochsensibilität beschreibt eine überdurchschnittlich ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber Reizen aus der Umwelt, sei es auf emotionaler, sensorischer oder sozialer Ebene. Bei Kindern kann dies bedeuten, dass sie stärker auf äußere Einflüsse reagieren als ihre Gleichaltrigen. Diese gesteigerte Empfindlichkeit kann sich auf vielfältige Weisen auswirken – von intensiveren emotionalen Reaktionen bis hin zu Herausforderungen im sozialen Umgang und in der Schule.

Alltägliche Herausforderungen

Das Mädchen in unserem Fallbild entsprach dem Profil eines hochsensiblen Kindes. Sie reagierte extrem empfindlich auf Geräusche, hatte Schwierigkeiten bei sozialen Interaktionen in Gruppen und konnte keine Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen.

Die Schulsituation stellte ebenfalls ein Problem dar. Das Mädchen hatte Schwierigkeiten mit Beziehungen und Gruppenarbeiten und fand sich auch insgesamt nur schwer in der schulischen Umgebung zurecht, was sich negativ auf ihre schulische Leistung auswirkte.

Mehr als nur Empfindsamkeit

Die gängige Annahme, dass Hochsensibilität allein für das Verhalten der Kinder verantwortlich ist, hinterfragt diese Situation. Ist diese Annahme wirklich hinreichend?

Die Suche nach den Wurzeln

Unser Ansatz geht über die reine Annahme hinaus, dass Hochsensibilität die alleinige Antwort ist. Wir fokussieren uns auf die tief verwurzelten Ursachen, indem wir die innere Welt des Kindes erforschen. Wir betrachten die familiäre Situation seit der Geburt, vergangene Erfahrungen, Einstellungen und Entscheidungen.

Die Macht der Kindheit

Gerade die Prägung aus der frühen Kindheit stellt eine der Hauptursachen für vielfältige Verhaltensprobleme dar. Erst durch das Verständnis dieser tieferen Ursachen können wir angemessene Lösungen finden.

Mithilfe der Analyse fanden wir heraus, inwieweit die Einflüsse in der Vergangenheit das Mädchen beeinflusst haben. Bereits im ersten Lebensjahr begann sie Abwehrmechanismen und Barrieren gegenüber Außenwelt zu entwickeln. Sie fühlte sich machtlos, widersetzte sich den Anforderungen der Umgebung und entwickelte Verhaltensweisen als Schutzmechanismus. Dieses Verhalten kann in den Kontext eines entwicklungsbedingten Traumas eingeordnet werden, das die Persönlichkeitsentwicklung beeinflusste und die Sozialisierung negativ beeinträchtigte.

Durch gezielte Lösungsschritte könnte ich das Mädchen folglich dabei unterstützen, einen gesunden Umgang mit ihren eigenen Grenzen zu entwickeln. Dies ermöglichte nicht nur eine bessere Selbstkenntnis, sondern führte auch zu einem erheblichen Entwicklungssprung. Dieser Fortschritt machte sich deutlich in ihren Beziehungen und in der schulischen Leistung bemerkbar, wo sie spürbare Verbesserungen erzielte.

Ein abschließender Gedanke

Es zeigte sich, dass die Hochsensibilität in diesem Fall nicht im Vordergrund stand. Diese Erkenntnis verdeutlicht, dass Diagnosen sowie andere Etiketten als Erklärung für Verhalten nicht ausreichen. Wir sollten uns nicht von ihnen leiten lassen. Auch wenn ein Kind hochsensibel ist oder eine bestimmte Diagnose aufweist, wird diese Bezeichnung erst dann hilfreich, wenn wir die zugrunde liegenden Ursachen angehen, die darüber hinausgehen.

Schlussbemerkung

Während eine Bezeichnung wie Diagnose oder, wie im vorliegenden Fall, Hochsensibilität, ein erster Schritt sein kann, bietet sie auf lange Sicht keine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität. Für nachhaltige Veränderung ist das Verständnis der Ursachen und deren Zusammenhänge in unserem Leben und in unserer Kindheit von entscheidender Bedeutung. Diesen Weg konnten wir erfolgreich mit dem betroffenen Kind beschreiten, indem wir bis in die frühe Kindheit zurückblickten und die Gründe für sein Verhalten untersuchten.

Ich möchte daher all jenen Mut machen, die nicht nur oberflächliche Etiketten akzeptieren möchten, sich dafür einzusetzen, tiefgreifende Veränderungen sowohl für sich selbst als auch für ihre Kinder zu erreichen.

Quellen: Aron, E. N. (2021). The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You. Random House.