Auf dem Schulhof tummeln sich Kinder. Ein Junge kommt summend auf mich zu, umkreist mich und wedelt wild mit den Armen: „Bzzz, ich bin eine Fliege.“

Ich beobachte den spielenden Jungen mit Interesse. Schließlich habe ich bereits oft erlebt, dass sich hinter so einem Spiel ein Problem mit der Akzeptanz der Realität verbirgt…

Wie können wir mit Sicherheit zwischen einem Spiel und einer Flucht aus der Realität unterscheiden?

Mit bloßem Auge erkennen wir es nicht. Eine klare Antwort finden wir nur in der inneren Welt des Kindes.

FALLBEISPIEL

Eines Tages hatte ich die Gelegenheit, in die Innenwelt eines 8-jährigen Mädchens zu blicken.

Der Grund für ihren Besuch war eine diagnostizierte Entwicklungsverzögerung und Vermutung auf eine geistige Behinderung – mit 8 Jahren war sie auf dem geistigen Niveau eines dreijährigen Kindes.

Ähnlich wie der Junge auf dem Schulhof ahmte das Mädchen häufig Tiere nach. Einmal war sie eine Katze, dann eine Biene oder ein Krokodil.

Als sie anfing, ihre Lebenskarte zu malen, wurden die ersten Anzeichen für Schwierigkeiten mit der Selbstidentifikation sichtbar.

Plötzlich fing sie an, wild durch den Raum zu laufen und lallte: „Ich bin eine Biene.“ Auf meine Fragen, wenn sie eine Biene sei, wo seien ihre Flügel, zeigte sie mir ihre wedelnden Arme.

“Aha, und wenn du eine Biene bist, wo ist dein Stachel?”

Sie kam etwas näher und drehte mir ihren Hintern zu.

Ich sagte ihr, dass ich zwar sehe, dass sie mich davon überzeugen möchte, dass sie eine Biene sei, aber dass es nicht funktioniert.

Sie hörte auf, wild durch den Raum zu laufen. Nun etwas beruhigt, stellte sie sich vor ihre Lebenskarte und wartete auf weitere Anweisungen. Ich berührte ihre Hand: „Was ist das?“

“Meine Hand“, antwortete sie.

„Und das?“, zeigte ich auf ihr Bein.

„Mein Bein.“

„Du hast also Hände und Beine?“, fragte ich sie.

Sie nickte zustimmend mit dem Kopf.

“Bist du also eine Biene oder ein Mensch?“

„Ich bin ein Mensch“, sagte sie etwas leise und war nun bereit, ihre Lebenskarte zu malen.

Weniger als eine Stunde später hatte ich die Antworten auf meine Fragen: 

  • Was ist die Ursache für das Problem mit der Selbstidentifikation von dem Mädchen?
  • Warum will sie der Realität ihrer Welt entfliehen?
  • Wann hat es angefangen?

Die Realität ihrer Welt war für sie so schmerzhaft, dass sie sich bereits im Alter von drei Jahren entschied, ein Kind zu bleiben. Durch die Flucht in die Illusion versuchte sie der Realität zu entfliehen. Sie war sich dieser Entscheidung bewusst und erinnerte sich mit ihren 8 Jahren noch an diesen Moment.

Diese Entscheidung störte den Prozess der Selbstidentifikation sowie ihre motorische und geistige Entwicklung erheblich.

Nach unserer Sitzung entspannte sie sich sehr. Ich half ihr dabei, sich die Vor- und Nachteile dieser Entscheidung bewusst zu machen. Wir redeten über die Folgen für ihr Leben. Das Ziel war, dass sie ihre Entscheidung unter Abwägung der Vor- und Nachteile für sich selbst aufs Neue überdenkt. Und das tat sie auch.

Ein paar Tage nach unserer Sitzung verzeichnete ich große Veränderungen in ihrem Verhalten und machte Schritte in die Selbständigkeit.


Manche Eltern wollen wissen, bis zu welchem Alter es noch in Ordnung ist, wenn ihr Kind in die Fantasie flieht?

Bei der Arbeit mit Kindern zeigt sich, dass es bis zum 5. Lebensjahr noch in Ordnung ist. Später ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Kind in der Fantasie eine Flucht vor der Realität sucht. Folglich entsteht ein Verhaltens- und Denkmuster mit weitreichend negativen Auswirkungen auf das Leben des Kindes. Meistens leben diese Menschen in starken Abhängigkeiten und werden nie wirklich erwachsen.

Gute Nachricht ist, dass wir es bereits bei kleinen Kindern erkennen und korrigieren können.

Nur wenn wir selbst die Realität unserer selbst und unserer Welt akzeptieren, können wir Kindern helfen, ihre Realität zu akzeptieren.