Da wir uns in der Zeit des Gedenkens an alle verstorbenen befinden, erinnere ich mich an die Lebenskarten von Kindern und Erwachsenen, die in ihrer Kindheit einen geliebten Menschen verloren haben. Jeder von ihnen wurde von diesem Tod auf irgendeine Art und Weise getroffen.

Abgesehen von dem Tod selbst, verbindet diese Geschichten etwas anderes. Und zwar spielte der Tod in dem Leben dieser Menschen eine andere Rolle, als ihr Umfeld annahm.

Durch diese Geschichten aus dem wirklichen Leben möchte ich auf den grundlegenden Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Todes für Kinder und Erwachsene hinweisen. 

Ausgerechnet dieser Unterschied beeinflußt das Leben der hinterbliebenen oder verwaisten Kinder viel stärker als der Tod selbst.


WAHRE GESCHICHTE: MIT 9 JAHREN WAISENKIND

Daria kommt mit 50 Jahren das erste Mal zu mir. Ihr Leben ist eine Aneinanderreihung von Beziehungs- und Arbeitsmissgeschicke. Zu Beginn des Gesprächs erwähnt sie den Tod ihrer Eltern.

Ihre Mutter starb bei einem Autounfall als sie 3 Jahre alt war. Ein paar Jahre später erhängte sich ihr Vater. Seit ihrem 9. Lebensjahr war Daria eine Vollweise.

Nach dem Tod ihrer Eltern veränderte sich das Leben von Daria grundlegend. Aus ihrer Lebenskarte erfahren wir allerdings, dass der Grund dafür nicht im Tod der Eltern liegt. 

Vielmehr waren es die Reaktionen des Umfelds, die Daria sehr belasteten. Seit dem Tod ihrer Eltern sprach niemand mehr mit Daria wie mit einer normalen Kind das weiterhin lernen, das Leben genießen sich weiterentwickeln und freuen möchte.

Ihr ganzes Umfeld ging davon aus, dass Daria nach dem Tod ihrer Eltern sehr viel leiden muss. „Als ob ich für sie nicht mehr existierte.“ erzählt Daria, während sie ihre eigene Lebenskarte malt. „Für meine Nachbarschaft und auch in der Schule war ich nur noch das arme Kind, das seine Eltern verloren hat.“

Die Art und Weise einer solchen Kommunikation ließ Daria glauben, dass das Erleben von Freude etwas Schlechtes ist. „Ich muss traurig sein, ich muss leiden, um mich den Vorstellungen meiner Mitmenschen anzupassen.“

Aus der Lebenskarte erkennt Daria, dass diese Reaktionen der Umgebung die Ursache dafür sind, dass sie seit der Kindheit keine Freude mehr erlebt. Seit der Kindheit lebt sie im Glauben, dass sie leiden muss. Dies spiegelt sich in dysfunktionalen Beziehungen und beruflichen Misserfolg wider.

Bereits nach einer Sitzung versteht Daria, warum sich die Misserfolge und Nöten durch ihr Leben wie ein roter Faden durchziehen.

Nach über 40 Jahren ist sie in der Lage, die Last aus der Kindheit abzulegen. Es verändert ihr Leben grundlegend. 2 Jahre nach unserer Sitzung verdient sie so viel Geld wie nie zuvor. Sie hat ihre kaputte Beziehung verlassen und endlich erlebt sie Freude und Leichtigkeit.


WAHRE GESCHICHTE: PAPAS VERSCHWINDEN

Adriana (10) kam zu ihrer ersten Sitzung mit der Lebenskarte. Im Erstgespräch schildert die Mutter  die Gründe für ihren Besuch – die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und der Tochter sowie das unhöfliche Verhalten der Tochter gegenüber der Mutter.

Als ich frage ob Adriana in einer kompletten Familie lebt, fängt die Mutter an zu zappeln und es ist offensichtlich, dass sie nicht über das Familienarrangement sprechen möchte. Die Art und Weise, wie sie spricht, ist umgeben von Geheimnissen.

Schließlich erwähnt die Mutter, dass Adrianas Vater vor einigen Jahren gestorben ist. Unstimmigkeiten zwischen ihr und ihrer Tochter begannen kurz nach dem Tod des Vaters, was die Mutter darauf zurückführt, dass die Tochter sich nie mit dem Tod des Vaters abgefunden hat.

Ich habe ihr versprochen, dass wir alles, was sie erwähnt, untersuchen und unser Bestes tun werden, um die Beziehung zwischen Mutter und Tochter zu verbessern. Nach dem ersten Gespräch geht Mama weg und ich bleibe mit Adriana alleine, um ihre Lebenskarte durchzugehen.

Adriana ist ein fröhliches und aufgewecktes Mädchen. Ihr Kommunikationstyp ist eine Kombination aus Bild und Verstand. Daher braucht sie in der Kommunikation klare und logische Informationen, die sie versteht.

Adrianas Innenwelt zeigt innere Unsicherheiten und große Sorgen, über die sie ständig nachdenkt. Aber woher kommen sie?

Beim Malen unterhalten wir uns. Wenn wir über Mama sprechen, fängt sie an zu meckern, dass Mama sie nichts machen lässt obwohl sie 10 Jahre alt ist, und dass sie alles für sie entscheidet, einschließlich, wie viele Zentimeter der Friseur ihr die Haare schneiden soll. Das gefällt ihr nicht und deshalb streitet sie sich oft mit ihrer Mutter.

Aus der Karte geht zudem hervor, dass Adriana ihre Mutter als emotional unerreichbar und unsicher wahrnimmt. Mama scheint überhaupt nicht für sie da zu sein und taucht nur auf, wenn Adriana sich durchsetzen will und Mama dagegen ist.

Zumindest ist die Mama da, wenn sie sich streiten. Das ist die einzige Gewissheit, auf die sich Adriana verlassen kann… Und deshalb fordert sie Konflikte heraus. Denn sie braucht ihre Mutter fürs Leben. Das sind Informationen, die die Mutter unbedingt hören muss.

Adriana setzt ihre Geschichte fort.

Oft versteht sie ihre Mutter nicht und nimmt wahr, dass ihre Mutter sie auch nicht versteht. Mamas Unsicherheiten, fehlende Informationen in der Kommunikation und das ewige „Verschwinden“ ihrer Mutter machen Adriana sehr unruhig. Trotz intensiven Nachdenkens findet sie keinen Ausweg aus dieser Situation.

Diese Grundsätze spiegeln sich auch in der Thematik des verstorbenen Vaters wider. Über den Tod ihres Vaters spricht Adriana sehr offen. Sie erwähnt, dass sie bis heute nicht weiß, was mit ihm passiert ist.

Eines Tages sagte die Mama, dass Papa verschwunden sei und niemand wusste, wo er ist. Den Ermittlungen zufolge ist er jedoch höchstwahrscheinlich tot.

Es war ein schwerer Schlag für die Mama. Zu dieser Zeit begann Adrianas Mutter aus dem ihrer Tochter Blickfeld zu verschwinden. Sie verschloss sich in ihre eigene Unsicherheit und ihren Schmerz ein. Adriana wurde allein gelassen. Mit dem Verschwinden ihres Vaters verlor sie plötzlich auch die Aufmerksamkeit ihrer Mutter.

Später wurde die Leiche des Vaters gefunden und die Beerdigung fand statt. Adriana hoffte, dass sich ihr Leben jetzt, da dieses Kapitel endlich abgeschlossen war, wieder normalisieren würde.

Dies geschah jedoch nicht. Mamas Leben schien mit Papas Tod zu enden. Aber nicht Adrians. Oder doch! „Ich kann doch nicht weitergehen und die Mama allein lassen“, sagte sie.

Mama hat nie mit ihr über Papas Tod gesprochen. Daher hatte Adriana keine Informationen darüber, was mit ihrem Vater passiert ist. Und sie verstand auch nicht, warum Mama sich so verändert hatte.

Sie erzählte mir, dass sie ihrer Mutter diese Fragen oft stellte. Und sie bekam nie eine Antwort. Weder von Mama, noch von Omas. Alle verstummten. Adriana verstand nichts.

Sie beschrieb mir eine Situation, in der sie ihre Mutter fragte. Zum Beispiel, als Mama und sie auf den Friedhof gingen. Nach einer langen Pause folgte immer die Antwort: „Dafür ist jetzt kein guter Zeitpunkt.“ Aber das war es nie. Nicht auf dem Friedhof, nicht zu Hause, nicht auf einem Spaziergang…

Also schlug ich Adriana vor, dass wir Mama danach fragen, wenn sie nach unserer Sitzung zurückkommt. Und ich versprach ihr, dass ich ihr helfen würde, wenn ihre Mutter wieder mal nicht antworten sollte. Ich würde ihr erklären, warum es diesmal wichtig sei, dass sie ihre Tochter informiert.

Als diese Frage aufkam, fing die Mama an zu weinen. Ich erklärte ihr, was dieses Schweigen mit ihrer Tochter macht und dass ich mit absoluter Sicherheit sagen kann, dass die Tochter den Tod ihres Vaters verarbeiten würde, wenn sie Antworten auf ihre Fragen bekäme. Was sie jedoch nicht verarbeiten kann, sind die Fragezeichen, die hinter seinem Tod stehen, und auch das Schweigen und Verschwinden der Mutter.

Schließlich erklärte die Mutter, sie wolle ihre Tochter beschützen, indem sie schweige. Unter anderem auch, weil der Fall des Verschwindens ihres Mannes in den Medien aufkam.

Als sie gefragt wurde, was wirklich mit Papa passiert sei, antwortete sie schließlich, dass sie es selber nicht weiß und dass sie die ganze Zeit nicht wusste, wie sie die Fragen ihrer Tochter beantworten solle.

Adriana fiel ein Stein vom Herzen. Es störte sie nicht, dass Mama nicht wusste, was mit Papa passiert war. Allerdings musste sie es von ihr hören, damit sie ihre Sorgen endlich loslassen konnte und ein freudiges Leben eines zehnjährigen Kindes fortsetzen konnte.

Nach diesem Gespräch waren beide offensichtlich erleichtert. Die Mutter verstand, dass ihre Tochter die Realität akzeptieren kann, wenn sie sie kennt. Was sie beunruhigt ist nicht die Tatsache, dass Papa gestorben ist, sondern die Tatsache, dass Mama nicht wahrheitsgemäß mit ihr über Papas Tod kommuniziert.


Solche Geschichten sind häufig. Erinnern wir uns also daran, dass Kinder ihr Leben auch nach dem Tod ihrer Eltern weiterleben möchten. Dafür brauchen sie ein unterstützendes und verständnisvolles Umfeld, das auf ihre Fragen und Bedürfnisse eingeht.